Martin Kobe
„Both Directions at Once“
22.04. – 27.05.2023
Galerie Jochen Hempel, Leipzig
„Both Directions at Once“
22.04. – 27.05.2023
Galerie Jochen Hempel, Leipzig
Urbane Formverdichtungen
Die Kunst von Martin Kobe bewegt sich zwischen zwei Polen: Auf der einen Seite regiert geometrische Klarheit, die Strenge und ein Bildgerüst mit sich bringt. Auf der anderen Seite ist da aber auch eine expressive Abstraktion, die das Bild in die Gegenrichtung treibt. Aus dieser Konfrontation zwischen klaren Rastern und abstrakt-schlierigen Flächen entsteht eine Spannung, aus der die Bilder ihr eigentümliches Gleichgewicht entwickeln. Kontrolle und Zufall halten sich die Waage. Kobe produziert Vexierbilder, in denen Räume sich in Oberflächen auflösen und umgekehrt – ohne dass jedoch die Betrachter diesen Widerspruch als Übermäßig irritierend empfinden würden. Wie in einer animierten Computersimulation fährt das Auge architektonische Strukturen ab, die jenseits von physikalischen Gesetzen zu schweben scheinen. Sie wirken zwar kantig, bieten jedoch auf einer schwer fassbaren Ebene wenig Reibungsfläche. Kobe baut seine Bilder multiperspektivisch auf.
Wie in einem architektonischen Fiebertraum oszillieren diese Ansichten zwischen Zwei- und Dreidimensionalität und öffnen so einen dritten Raum: eine Bühne für das Unbewusste in der Architektur.
Begonnen hat der Leipziger Künstler seine malerischen Raumforschungen um das Jahr 2000. Das visuelle Grundmaterial findet Kobe seither auf Reisen, im Internet, in alten Büchern oder Zeitschriften. Doch dieses Material wird im Arbeitsprozess durch den Künstler verfremdet und vereinfacht und wie in einem Prozess des Reverse Engineering auf seine Grundformen heruntergebrochen. Es handelt sich um eine künstlerische Informationsgewinnung, die mit Mitteln der Forschung arbeitet. Zum Gegenstand seiner Untersuchungen kann nahezu alles werden: die Kurven, wie sie für die optimistischen US-Designs des Atomzeitalters charakteristisch waren, die Ostmoderne, die westeuropäischen Bauten der Sechziger genauso wie die postmodern-repräsentative Säulenarchitektur des Berliner Regierungsviertels. Mitunter benutzt Kobe auch Abbildungen von signifikanten Architekturen, wie die schwungvoll gerundete Turm-Treppenhaus-Glasfassadedes modernistischen Kaufhauses Schocken von Erich Mendelsohn in Stuttgart. Anderswo erinnern großzügige Verglasungen und offene Zonen an die fließenden Übergänge zwischen Innen und Außen, wie sie etwa für den kalifornischen Modernisten Richard Neutra charakteristisch waren.
Doch Kobe geht es nicht um Architekturgeschichte oder eine Spielart künstlerischer Architekturkritik. Es geht ihm darum, wie sich in seinen Bildern alles neu und anders zusammenfügt. „Ich lasse mich auf die Form ein und reagiere im Medium der Malerei‘ Die ursprüngliche Signifikanz solcher Bauten schleift sich während ihrer Verwendung durch den Künstler ab. Durch Kobes Bearbeitungen entwickeln sie ein zweites und anderes Eigenleben. All diese Versatzstücke benutzt er im Sinne von Modulen, um verschiedene Strukturen, Flächen und Farben zusammenzubringen. „Architektur funktioniert wie eine Schrift, bestehend aus Wörtern, die sich buchstabieren lassen“, sagt der Maler. „In der Kombination dieser Elemente, entsteht eine Art Bedeutung, die über einen einzelnen Begriff hinausreicht.“
Auf diese Übergange und Zwischenräume, die Punkte des Zusammenfügen oder Auseinanderbrechens konzentriert sich Kobes künstlerisches Interesse. Er arbeitet intuitiv und entwickelt seine Bilder auf der Suche nach Balance aus dem Malprozess heraus. Manchmal schimmert das nicht eindeutig zu verortende Licht metallisch, an anderen Orten wirkt die Acry/-Oberfläche ganz stumpf. Wie in einem Zeitraffer wechseln sich Aufbau und Zerstörung ab. Im Verlauf dieses Prozesses kristallisieren sich psychologische Aspekte aus, die für den assoziativen Charakter der Bilder zentral erscheinen.
Architektur wird von Kobe wie ein Zeichensystem oder eine Sprache begriffen, aus dessen einzelnen Elementen sich neue Zusammenhänge herstellen lassen. Auf dieser Abstraktionsebene lässt sich sein System beliebig welt entwickeln. Deshalb erscheint Kobes Kunst womöglich auch dem utopischen Moment, das einem Entwurf innewohnt viel näher als der Wirklichkeit des gebauten Stadtraumes an sich. Sie folgt dem freien Spiel der Fantasie. Es handelt sich in diesem Sinne um eine freie Verdichtung urbaner Formen, nicht um deren Illustration.
Diese Strukturen erscheinen unbewohnbar, daher rührt auch der Eindruck ihrer kühlen Unbeseeltheit. Sie wirken verlassen. Doch leblos sind sie nicht. Es sind unheimliche Orte.
Für die Kunsthistorikerin Monika Wagner sind in die materiellen Oberflächen städtischer Räume mit ihren funktionalen Aufgaben auch ästhetische Codes eingeschrieben, welche maßgeblich an der Regulierung sozialer Zugehörigkeiten beteiligt sind: ,,Das, was die Ausstattungen als imagebildende Faktoren kommunizieren, hängt wesentlich von den verwendeten Materialien, den Texturen, Farben und Herstellungsweisen für Wände, Böden und mitunter auch für Überdachungen ab. Daran sind Zuschreibungen von Wertigkeiten und Bedeutungen an einzelne Materialien beteiligt, die oft auf langlebigen kulturellen Traditionen basieren. “ In seiner Arbeit befreit Kobe die architektonischen Gebilde von dieser Dimension ihrer Lesbarkeit weitestgehend und öffnet sie für andere Deutungsmuster. Als Architekturen in der Schwebe sind sie nicht mehr zur Markierung sozialer Hierarchien zu gebrauchen. Ihr Aggregatzustand liegt zwischen Verfestigung und Verflüssigung. Sie werden zu Elementen einer Syntax, die zur Definition neuer Räume dienen.
Text: Kito Nedo