Berit Schneidereit
„über Nacht“
30.07. – 10.09.2022
Galerie Jochen Hempel, Leipzig
„über Nacht“
30.07. – 10.09.2022
Galerie Jochen Hempel, Leipzig
Berit Schneidereits Ausstellung „über Nacht“ schenkt der überraschenden Wandlung, dem zweiten Blick und dem Wieder-Sehen große Aufmerksamkeit. Zunächst ganz wörtlich gemeint, sehen wir vieles anders am Morgen nach einer langen Nacht, aber natürlich geht es hier auch um die Fotografie und damit stellen sich Fragen des Lichts und der Belichtung, der Belichtungszeit und der Verwandlung des fotografischen Bildes unter verschiedenen Lichtquellen und Bildträgern. Schneidereit beschäftigt sich seit langem und auf immer wieder überraschende Weise mit dem, was sich zwischen Bild und Betrachtenden schiebt. Das kann eine Gaze in ihren Cyanotypien sein, oder der Einschub erfolgt in Form eines Rasters, das sich zwischen Positiv und Negativ-Abzügen auf, unter oder in die Oberfläche ihrer schwarz-weiß Belichtungen aus der „retouch“-Serie einfügt. Hier kippt alles kontinuierlich, zwischen einem figurativen Raum und der abstrakten Haut des Bildes. Schneidereits Bildräume kommen dabei der Bildoberfläche immer so nahe, dass sie ineinander greifen – und plötzlich unerwartete Geschichte erzählen.
Hier ist ihre fotografische Praxis einem weitgehend unbekannten, faszinierenden Text Jean Paul Sartres nahe, in dem er sich an eine Kino Erfahrung seiner Kindheit der 1910er Jahre erinnert. Dieser ist vor allem deswegen so bewegend, da er den Kino-Raum, die Leinwand und die schwarz-weiß Filme seiner Pariser Kindheit als ästhetische Erfahrung beschreibt, bei der sich der junge Jean Paul nicht über die technischen Prozesse hinter der Produktion eines analogen mm-Film Bildes bewusst ist. So ist die vielleicht rührendste Stelle die, an der er sich fragt wie es sein kann, dass es in den Bildern vor ihm permanent in Innern regnet und noch dazu am helllichten Tag Sternschnuppen durch die Räume sausen. Was sieht er hier? Es sind die Kratzspuren auf dem analogen Film, die jene weißen Steifen im Bild auslösen, die genau genommen Risse im Bildträgermedium sind und durch Abnutzung entstehen. Wir übersehen sie gekonnt, für Sartre aber präsentieren sie sich schlicht als Regen im Innenraum. Und die Sternschnuppen? Jene im Millimeter-Film des Kinos beizeiten weiss aufblitzenden Staubflusen oder Fussel, die kurz durch das Bild schießen, für uns nur eine visuelle Störung über die wir hinwegsehen, für den kindlichen Sartre der 1910er Jahre fügten sie sich aber in das Bildgeschehen ein. Und werden zu Kometen.
Es waren also die auf und im Trägermedium liegenden Störungen und Materialen, die dazwischen geschalteten Objekte, die für Sartre untrennbar mit dem Bild verbunden waren und so eine neue Erzählung, eine unbekannte visuelle Realität brachten, die nur im Bild existieren konnte, obwohl die Zutaten indexikalisch mit der Welt verbunden blieben. Und just hier geschieht etwas ganz Ähnliches in Schneidereits „über Nacht“, denn was sich auch immer zwischen ihre Bildträger und das Licht gelegt hat, es kreiert eben jene Oberflächenspannung, die nur das fotografische Bild im Generellen, und Berit Schneidereit im Besondern, auszulösen vermag.
Nico Anklam
1 Jean Paul Sartre: «Im Kino»;
Die Wörter, übersetzt von Hans Mayer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, S. 69-71.
Berit Schneidereit’s exhibition „über Nacht“ pays great attention to the surprising transformation, the second look and seeing again. Initially meant quite literally, we see many things differently the morning after a long night, but of course this is also about photography and thus questions of light and exposure, exposure time and the transformation of the photographic image under different light sources and image carriers arise. Schneidereit has long been concerned, and in ever surprising ways, with what interposes itself between the image and the viewer. This can be a gauze in her cyanotypes, or the insertion takes the form of a grid that slides itself between positive and negative exposure on, under, or in the surface of her black-and-white prints from the „retouch“ -series. Here everything tilts continuously, between a figurative space and the abstract skin of the image. Schneidereit’s pictorial spaces always come so close to the surface of the image that they interlock – and suddenly tell unexpected stories.
Here her photographic practice is close to a largely unknown, fascinating text by Jean Paul Sartre, in which he recalls a cinema experience of his childhood in the 1910s. This is particularly moving because it describes the cinema space, the screen, and the black-and-white films of his Paris childhood as an aesthetic experience in which the young Jean Paul is unaware of the technical processes behind the production of an analog mm film image. Thus, perhaps the most touching passage is when he wonders how it can be that in the images before him it is permanently raining inside, and on top of that, there are stars whizzing through the rooms in broad daylight. What does he see here? It’s the scratch marks on the analog film that trigger those white streaks in the image, which, strictly speaking, are cracks in the image carrier medium and are caused by wear and tear. We, on the other hand, skillfully overlook them, but for Sartre they simply present themselves as rain in the interior. And the shooting stars? Those white fluffs of dust or lint that flash briefly through the picture in the millimeter film of the cinema, for us only a visual disturbance that we overlook, but for the childlike Sartre of the 1910s they inserted themselves into the picture. And become comets.
So it was the disturbances and materials lying on and in the carrier medium, the interposed objects, that for Sartre were inseparable from the image and thus brought a new narrative, an unknown visual reality that could only exist in the image, although the ingredients remained indexically connected to the world. And it is precisely here that something very similar happens in Schneidereit’s „über Nacht,“ for whatever has interposed itself between her image carrier and the light creates precisely that surface tension that only the photographic image in general, and Berit Schneidereit in particular, is capable of triggering.
Nico Anklam
1 Jean Paul Sartre: «Im Kino»;
Die Wörter, translated by Hans Mayer, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1965, pp. 69-71.